Gewebte Bänder rund um die Ostsee
von und bei Anneliese Bläse

Besondere Bänder und Webtechniken

Vom „Weben auf dem Fuße“
Eine uralte Bandwebmethode, in Estland wiedergefunden von Anneliese Bläse
Dame barfuss

In der großen Heidelberger Liederhandschrift, auch Manessesche Handschrift genannt, entstanden um 1200, ist auf dem Blatt 82 der „Kirc-Herre Heinrich Rost zu Sarnen“ dargestellt, der eine Dame in ihrem Gemache besucht, und diese ist eine Bandweberin! Auffallend ist, daß diese Weberin barfuß ist, was für damalige Damen als sehr unanständig galt, zumal wenn sie Herrenbesuch empfingen. Der Textilforscher Richard Stettiner hat sich mit diesem Bild auseinandergesetzt in seinem Pamphlet „DAS WEBEBILD IN DER MANESSE-HANDSCHRIFT UND SEINE ANGEBLICHE VORLAGE“. Darüber habe ich an anderer Stelle berichtet. Aber er gebraucht hier einen Ausdruck, den er aus Margarethe Lehmann-Filhés: „Über Brettchenweberei“ (1901) zitiert.
Das brachte mich dazu, mich endlich auch einmal mit diesem klassischen Grundwerk zu befassen. Zu meiner Überraschung ist das Buch so wertvoll, dass ich es aus der Stadtbücherei nicht mit nach Hause nehmen durfte, wo man es für mich hat kommen lassen, sondern es dort lesen musste. Allerdings hatte die Bibliothekarin nichts gegen Kopieren einzuwenden und so konnte ich für angemessene DM mein eigenes Exemplar mitnehmen. Margarethe Lehmann
-Filhés schreibt übrigens im Gegensatz zu so mancher wissenschaftlichen Abhandlung, durch die ich mich in den letzten Jahren mühselig hindurchgepflügt habe, sehr kurzweilig und leicht verständlich über ihre Wiederentdeckung der lang vergessenen Brettchenbandweberei.

Nach Stettiner ist die Dame also barfuß, weil sie gerade dabei ist, auf dem Fuße zu weben. Dazu schreibt Margarethe Lehmann-Filhés über ein Stückchen Band, das angeblich mit Brettchen gewebt worden sein soll, sich aber dann als etwas anderes - nämlich ein Kettripsband mit gelesenem Muster - herausstellte:
Das Probebändchen, bei dem die roten Fäden des Musters dem schwarzen, leinwandartigen Gewebe lose aufliegen, gleicht....ganz den in
Lithauen mit dem Kamm gewebten und ist, wie ich aus Island hörte, auch hier schwerlich mit Brettchen, sondern ohne solche "auf dem Fusse" gewebt... Ein älterer isländischer Gelehrter, Brynjulfur Jonsson, schreibt mir darüber: >> Ich weiß, daß die Frauen noch zu meiner Zeit Bänder „auf dem Fuße“ webten. Die Kette wurde mit dem einen Ende um den Fuß geschlungen, am anderen Ende, an dem man webte, mit der Hand gehalten (Na, na!). Um das Fach zu bilden, hatte man eine Handhabe, sie bestand aus einem Faden, der in Schlingen lag; um jeden zweiten Faden der Kette ging eine Schlinge. Die mit Schlingen versehenen Kettfäden wurden abwechselnd emporgezogen - dann bildeten sie das eine Fach - oder herabgelassen, wodurch die anderen Fäden die oberen wurden und sich das zweite Fach bildete. Wollte man Muster weben, so hatte man noch eine „Handhabe“ (oder mehrere?), mit der man nach Belieben Fäden emporziehen konnte.<<  

Ringkette

Diese Randbemerkungen - für das Thema Brettchenweberei eigentlich nebensächlich - sind mir aufgefallen, weil ich schon lange die nebenstehende Zeichnung
kannte, die mir rätselhaft war. Sie stammt aus dem über 100 Jahre alten, auf deutsch geschriebenen Buche von Axel O. Heikel: „DIE VOLKSTRACHTEN IN
 DEN OSTSEEPROVINZEN UND SETUKESIEN“. Heikel war Anfang des 20. Jahrunderts der erste Leiter des Seurassari-Freiluftmuseums in Helsinki.
Er hat ausnahmsweise zu diesem Bildchen keinen erklärenden Text geschrieben, wahrscheinlich, weil er selbst schon nicht mehr wußte, wie man eigentlich
damit webt. Geben wir doch zu, die Angaben jenes isländischen Gelehrten setzen voraus, daß die Weberin 3 Hände hat!

Als meine junge estnische Freundin Ingrid Biin mich durch Lääne-Virumaa fuhr, um einige Bandweberinnen zu treffen, die mit dem Kamm ihre Trachtengürtel webten,
sagte sie nachdenklich: “Ja, und dann gibt es da noch das Weben mit dem Schwert. Ich habe mal davon gehört, aber ich weiß nicht, wie es geht. Mit dem Schwert?“
Sie fragte auch deshalb, weil sie unsicher war, ob sie das Schwert richtig übersetzt hatte. Das konnte ich ihr bestätigen, 
und hatte dabei dieses Bild von Heikel >> vor Augen:

Damals konnte ich ihr nur sagen, daß das hölzerne Gerät zum Anschlagen der Schußfäden schon in alten Zeiten als Schwert bezeichnet wurde,  daß mein norwegisches Webschiffchen, eigentlich eine Kreuzung zwischen Schiffchen und Schwert ist,

und daß die Frauen in Schweden meist erst mit dem Schwert anschlagen und
dann den Schußfaden, der zu einem speziellen Knäuel, der Niste, lappländisch Uddo, deutsch Docke, gewickelt ist, mit der Hand
durch das Fach stecken.
Unsere Netznadeln,
die wir als Schiffchen nehmen, sind, ebenso wie mein Schwertschiffchen,  eine Arbeitsvereinfachung.
Aber damit war die Frage noch nicht geklärt, wie Estinnen mit dem Schwert weben.
Mir ist aufgefallen, dass estnische "Schwerter" mehr die Form von Haumessern oder breiten Äxten haben wie auf der Zeichnung hier unten.
Webschwerter

 1. Prähistorisch (aus einem neolithischen Pfahlbau, Robenhausen, Schweiz) 17,5 cm lang.
2. Norwegen Österdalen, Hedemark, 35 cm lang. -
3. Pueblo-Indianer. -
4. Müden, Kreis Gifhorn, 26,5 cm lang. -
5. Pyhajärvi, Karelien, Finnland, 54 cm lang.

 D




iese Sammlung von ganz verschiedenen Webschwertern stammt aus der o. a. Schrift von Richard Stettiner.


Ich habe auch Emilia, eine Indianerin aus Guatemala, am Rückengurt weben sehen, mit einem wunderschönen, blank polierten, altersbraunen Holzschwert, das sie schon von ihrer Mutter gerbt hatte. Von ihr erfuhr ich, daß die Maya-Frauen, ihre Vorfahrinnen, schon vor 2000 Jahren so gewebt haben. Stolz fuchtelte sie dabei mit ihrem Webschwert herum,  

Stettiner berichtet, daß in verschiedenen Teilen der Erde die webenden Frauen das Schwert durchaus auch dazu gebrauchen, sich gegen zudringliche Liebhaber oder gar Räuber zu wehren. Was soll die Frau auch machen, weglaufen kann sie ja nicht, wenn sie bei der Arbeit festgebunden ist.

Also alle Achtung vor dem Webschwert!

Im Juli 1996 war ich mit meinem Mann einmal wieder auf einer Rundreise durch Estland. Wir besuchten unter anderen auch die Lehrerin Anne-Elss Hiiop in Tamsalu, Kreis Rakvere. Sie hatte eine besondere Überraschung für mich. Eine Kollegin von ihr webte gerade an einem Gürtelband: „Aber sie macht es ganz anders, als du,“ sagte Anne-Elss, „wenn du es sehen willst, rufe ich sie an, sie wohnt hier in der Nähe und kommt gleich rüber und zeigt es dir.“

Natürlich wollte ich. Leider hatte ich meinen Fotoapparat nicht dabei. Aber wenige Monate danach schickte mir Anne Dixon aus England die Zeichnung hier unten. Sie stammt aus Indochina und zeigtFussweben genau, was ich daneben mühselig mit Worten zu erklären versuche:

Die junge Physiklehrerin kam und ich staunte:
Sie zog aus ihrer großen Tasche genau das Webgerät, welches ich  von dem Bild von R. Stettiner kenne: Eine Bandwebkette, gut 3 m lang, die nach dem Schären  nicht aufgeschnitten worden ist, also ringförmig.

An der Stelle a sind die Fäden so um einen runden Holzstab, ein glatt geschliffenes Stück Besenstiel von etwa 20 cm Länge, gewickelt, daß sie ein geordnetes Kreuz bilden und dabei das Holz festhalten, daß es nicht verrutscht.
Dann der kleine Litzenstab b, genau wie oben auf der Zeichnung: Ein handbreit langes Stöckchen mit den weißen Garnschlaufen,  durch welche jeder 2. Faden der Kette gezogen ist,
danach der Teil der Kette, an dem gearbeitet wird und das Stück fertiges Band, das langsam um den Rücken wächst.
Die übrige Kette, welche sich zwischen dem großen Stab und dem Bandanfang befindet, ist mehrfach abgebunden, so daß man das Ganze getrost wegpacken kann.
Als weiteres Werkzeug hatte sie auch ein großes axtförmiges Holz,  ähnlich  dem "Schwert" c in der Zeichnung oben,
und der Schußfaden d war auf eine kleine Papphaspel gewickelt.

Nun ging es los. Als erstes zog sie ihren linken Schuh aus, Strümpfe hatte sie nicht an, es war Sommer. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl, den Anne ihr hinschob und sagte dazu: „Zuhause habe ich das natürlich bequemer, da sitze ich auf meinem Bett. Das paßt dann ganz genau.“ Anne schob ihr einen zweiten Stuhl so vor die Knie, daß der Sitz zu ihr hinschaute. Um diese Stuhllehne und um ihren Körper legte sie die Kette und stemmte den linken Fuß so gegen diesen 2. Stuhl, daß sie gespannt war. Nun hatte sie also auf ihrer rechten Seite das unbearbeitete Stück Kette mit den bunten Abbindefäden, unter ihrem linken Arm kam das angefangene Band hervor, der kleine Litzenstab mit der weißen Fadenschlaufen lag auf ihrem linken Knie. Die Musterzeichnung legte sie neben sich und stöhnte wieder, daß das auf dem Bett zuhause viel bequemer wäre.

Das Muster war ein für Lääne-Virumaa typisches 8-Sternmuster in dunkelblauer und dunkel-und hellroter Wolle auf naturweißem Leinengrund, mindestens 25 Musterfäden breit, liebevoll mit Buntstift auf großkariertes Schulheftpapier gezeichnet. Die Vorlage war so breit daß ich Mühe hatte, das ganze Muster zu überblicken.

Beim Weben hat sie nun die ungespannte Kette flach auf dem linken Oberschenkel liegen, kämmt sie noch etwas mit den Fingern glatt und liest mit den Fingern aus der gesamten Fadenmenge die Musterfäden heraus, die für den nächsten Schuß gebraucht werden, dann hebt sie den Litzenstab mit der freien Hand und spannt dabei mit dem Fuß die Kette, spreizt das Fach mit der Hand auseinander und schiebt den Schußfaden durch. Danach schlägt sie mit dem Schwert an. Auf diese archaisch-mühselige Weise webt sie Schuss um Schuss einen gleichmäßigen Gürtel von vier bis fünf cm Breite.

„Es geht sehr langsam“, sagt sie selbst. Anne-Elss will eine Diskussion über Webmethoden anfangen, weil sie gesehen hat, daß es bei mir viel schneller geht. Aber ich merke, daß die Weberin nicht diskutieren möchte und hüte mich, Verbesserungsvorschläge zu machen.
„So habe ich es eben gelernt. Es gibt bei uns auch Leute, die mit Vöökudumise (Bandwebe) oder Vöösuga (Webkamm) arbeiten, es gibt verschiedene Methoden, und jeder webt bei uns, wie er mag,“ sagt die Weberin. Und dann erzählt sie uns, daß sie eigentlich das Band nur für eine alte Frau fertig webt, die es jemandem versprochen hat und schon angefangen hatte, aber weil sie nicht mehr gut sieht, lauter Fehler hineingewebt hatte. Sie hat schon ein Stück auftrennen müssen. „Eigentlich ist das gar nicht mein Ding,“ erklärt sie und zieht plötzlich einen dicken wollenen Strickpullover aus ihrer Tasche: “Das hier, das macht mir Spaß, damit verdiene ich auch ein bißchen Geld!“ Bei der mühsamen Methode verstehe ich das durchaus.

Hab Dank fürs Zeigen, liebe Weberin, deren Namen ich nicht einmal behalten habe, denn nun weiß ich endlich, wie man „mit dem Schwert“ und „auf dem Fuße“ webt!

Pueblo-Indianerin

Inzwischen sind mir noch mehr Fußweberinnen begegnet.

Im Januar 2007 bekam ich von Michael Giusiana, einem amerikanischen Weblehrer, dieses Bild von einer Zni-Indianerin,  >>>
( Pueblos), die auf ihrem Bett sitzt, wie die Estin zu Hause auch,  und auf dem Fuße webt,
sogar auch auf dem linken, wie die Estin und die Frau aus Indochina.
Aber sie benutzt dazu einen Webekamm, das ist schon eine Verbesserung.
Die Zuni, wie die Pueblo-Indianer, hatten keine eigene Webkultur, bevor die Europäer kamen. Während die "Weißen" in USA die Bandweberei völlig vergessen hatten, genau wie die Europäer, haben die Indigenas sie zu einer neuen Blüte entwickelt
  -  so dass hier bei uns in der Jugendarbeit plötzlich Indianer-Weberei als Hobby Mode wurde.

Das Bild stammt aus einem Artikel über Bandwebkämme, der 1899 vom US-Nationalmuseum veröffentlicht wurde,
daher die mangelnde Qualität.


Die modernen Estinnen weben heute noch mit der Ringkette, aber nicht auf dem Fuße, sie binden sich am Heizukörper fest!.
Ich habe sie selbst dabei fotogrfiert:


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